Den Kreis aus der Reserve seiner Vollkommenheit locken
Von Dr. Hans-Dieter Fronz, Freiburg, zum Werk von Rüdiger Seidt
Seine Kunstwerke geben dem Auge zu denken, selbst dem geometrisch geschulten. Ein Beispiel wäre "Zweiflächer endlos" von 2017. In der formalen Anlage erinnert Rüdiger Seidts übermannshohe kreisrunde Skulptur aus Edelstahl an ein überdimensionales Wagenrad, freilich eines ohne Speichen. Nur dass sich dieses Wagenrad denkbar schlecht zur Fortbewegung eignete. Und dies, weil sich die Ausrichtung des im Querschnitt stählernen Vierkantform-Rings im Laufe einer gedanklich vollzogenen Umrundung der Form einmal spiralförmig vollständig um die eigene Achse dreht. Man stelle es sich so vor, dass die Außen- oder Abrollfläche - und mit ihr das Quadrat des Ring-Querschnitts - im ruhenden Zustand des Rads bei fortlaufender Bewegung des Auges an der ringförmigen Skulptur entlang in fließenden Übergängen einer 90-Grad-Drehung zunächst zur seitlichen Begrenzungsfläche wird, die im Fortgang ebenso stufenlos in die Innenfläche des Rads und schließlich die äußere Begrenzungsfläche - nun freilich auf der gegenüberliegenden Seite - hinüberwechselt. Zum Ausgangspunkt des Kreisumlaufs hin geht sie dann fließend wieder in die Außenfläche über.
Wie auf den ersten Blick einfach erscheinende Formen sich komplexen Konstruktionsideen verdanken können, Rüdiger Seidts Skulptur demonstriert es glänzend. Der Kreis ist in seinem Werk eine privilegierte und häufig verwendete Form. Freilich unterzieht Seidt die Kreisform dabei in den allermeisten Fällen einer grundlegenden Veränderung. Die Torsion oder schraubenförmige Drehung um die eigene Achse wie in dem besagten Beispiel ist nur ein Mittel – wenngleich ein bevorzugtes -, um seinen Skulpturen durch Abweichung von der vollkommenen Form Spannung und Leben einzuhauchen: um die Langeweile, die den in der Konkreten Kunst häufig verwendeten und sattsam bekannten geometrischen Grundformen wie Kreis, Rechteck oder gleichseitiges Dreieck anhaften kann, zu vermeiden.
Es ist nicht ohne Aussagekraft, dass sich Seidt in
zahlreichen bildhauerischen Werken wie auch in seinem
grafischen Schaffen just am Kreis abarbeitet. Schon in der Antike galt
der Kreis als vollkommene Form. Für den Stahlplastiker
Roland Phleps, den Gründer der Stiftung für konkrete Kunst, in deren
Freiburger Skulpturenhalle Seidt schon 2001 ausstellte, war die
Reminiszenz an dieses antike Verständnis des Kreises die
Grundlage für ein Wortspiel:
Der Kreis ist vollkommen.
Der Kreis ist vollkommen langweilig.
Weil dies aber so ist, stellt der Kreis für den konkreten Künstler
eine Herausforderung dar. Auch für Roland Phleps tat er das.
Man muss sich Rüdiger Seidt jedoch als einen Menschen vorstellen, der einer Herausforderung nicht so schnell aus dem Weg geht. Vielmehr erprobt er sich und sein künstlerisches Ingenium an ihr. Nur so bringt ihn die Problemstellung auf seinem künstlerischen Weg weiter. Einzig durch Veränderung aber lässt sich für ihn dem Kreis gleichsam Leben einhauchen: im Aufbrechen seiner vollkommenen Form. Formale Eingriffe wie Torsion - also die spiralförmige dreidimensionale Drehung - oder Verbiegung sind für Seidt Mittel, den Kreis aus der Reserve seiner Vollkommenheit zu locken. Aber auch schlicht und einfach seine Deformation ist so ein Mittel. In der übermannshohen, auf einem rostfarbenen Sockel im Freien platzierten Cortenstahlskulptur "Gekrümmter Kreis" von 2019 ist die Kreisform buchstäblich deformiert; sie ist, eine kühne Formfindung, als Kreis kaum noch erkennbar. In "Zweiflächer endlos, gesockelt" stellt Seidt eine in spiralförmige Bewegung versetzte Kreisform auf einen schiefen Sockel: Neigung als Abweichung von der streng vertikalen Ausrichtung einer Skulptur oder des Sockels ist ein weiteres Mittel für Seidt, Lebendigkeit in seine Schöpfungen zu bringen; nicht minder die Verweigerung oder besser Störung von Symmetrie. Darüber hinaus ist in verschiedenen Werken die Kreisform zwar angedeutet, doch der Kreis schließt sich – eben doch nur fast: Als Stachel von Unperfektion durchkreuzt der verbliebene Spalt ebenfalls die zeitlose Vollkommenheit des Kreises.
Die oben angeführte Plastik "Zweiflächer endlos" ist eine Lehnskulptur, was bedeutet: Das Werk wird durch keinen Sockel aus der Sphäre der Wirklichkeit und des realen Lebens herausgehoben. Scheint sich die Plastik auf schiefem Sockel insgeheim über die Abgehobenheit von Kunst, ihr Herausgehobensein aus der Wirklichkeit zu amüsieren, so votiert auch die Lehnskulptur gegen solche Trennung von Kunst und Leben. Tendenziell strebt demgegenüber Seidts Kunst mitten ins Leben hinein. Keinesfalls will sie bloßes Objekt der Anschauung sein, vielmehr prägend in unser Leben, unsere Lebenswirklichkeit eingreifen - ja, ein Teil von ihr werden, so wie es beispielsweise die Architektur ist. In einem Werk wie der Edelstahlskulptur "Glänzende Figuration" von 2018 wird das unmittelbar anschaulich. Spiegelt sich in der auf Hochglanz polierten Oberfläche der Plastik doch die Umgebung, wodurch das Kunstwerk gleichsam mit ihr verschmilzt. Nicht zuletzt der Umstand, dass Seidt zahlreiche Skulpturen für den öffentlichen Raum geschaffen hat, weist in diese Richtung. Auch "Schüssel Schale Scheibe" von 1997, eine Skulptur aus geschweißtem Schweißdraht von 1997, kündet von der Ausrichtung von Seidts plastischer Kunst auf die Wirklichkeit.
Ein auffälliges Charakteristikum von Seidts Skulpturenwerk ist Bewegung. In verschiedenen Plastiken mit dem Titel "Strudel" springt sie uns förmlich ins Auge. Wobei die Brechung der gleichförmigen Wellenbewegung an einer Stelle der Skulptur natürlich nichts anderes darstellt als ein formales Pendant zur Störung von Gleichförmigkeit und Symmetrie in bereits erwähnten Werken. Nicht minder augenfällig ist Bewegung der Cortenstahlplastik "Offene Spirale" von 2020 eingeschrieben: Auch sie, Bewegung, ist wie es scheint als Antwort Seidts auf die zeitlose und darin immobile Vollkommenheit des Kreises zu verstehen. Wenn Werke wie "Pas de deux", wie "Pointer", das die Gestalt eines Möbiusbands hat, oder auch "Ballerinasofa" Bewegung zum Teil bereits im Titel evozieren, offenbart sich darin nicht weniger als in Skulpturen gleich "Figuration", "Corpus" oder "Kopf" die Ausrichtung von Rüdiger Seidts Skulpturen auf den menschlichen Körper als den Fluchtpunkt seiner Kunst.